Eine Auszeit im Hochsolling mit „wilden" Gefährten

Übernachten im Glampingzelt bei den Rentieren

Ich bin schockverliebt. Diese dunkelbraun-pelzüberzogenen, raumgreifenden Geweihe haben es mir angetan. Und ich werde viel Zeit haben, mich sattzusehen an den Rentieren, mit denen ich mir eine Nacht das Gehege „teilen“ werde. „Rentier-Glamping“ heißt mein Abenteuer in Holzminden-Silberborn. Wir werden trotzdem in „getrennten Betten“ schlafen, die Tiere aus dem hohen Norden und ich. Ich im möblierten Luxuszelt auf einer Stelzen-Terrasse, die neunköpfige-Rentierherde drumherum. Außer, dass die Rentiere in meiner weihnachtlichen Phantasie die schlittenziehenden Haustiere von Santa Claus sind, weiß ich wenig über meine kurzzeitigen Mitbewohner. Als Erstes lerne ich, dass Rudolph mit der roten Nase eigentlich eine Rudolphine sein müsste.  

Übernachten im Luxuszelt und einen exklusiven Blick auf das Rentierleben genießen: Beim „Rentier-Glamping“ in Holzminden-Silberborn gibt es auch schon mal tierischen Besuch auf der Terrasse. Übernachten im Luxuszelt und einen exklusiven Blick auf das Rentierleben genießen: Beim „Rentier-Glamping“ in Holzminden-Silberborn gibt es auch schon mal tierischen Besuch auf der Terrasse. Fotos: Jana Sudhoff Jedes Jahr nach der Brunft fällt das Geweih bei allen Rentierbullen ab – also noch vor Weihnachten. Die einzigen Tiere der Herde, die dann noch ein Geweih ziert, sind die Weibchen. Sie behalten es im Winter, um sich an den Futterstellen während ihrer Schwangerschaft durchzusetzen. Die geweihlosen Männchen fallen als Weihnachtskartenmotive also eigentlich weg. „Bei manchen Bullen fällt das Geweih zeitversetzt ab. An dem einen Tag die linke Stange, ein oder zwei Tage später die rechte Stange“, verrät Rentierbesitzer Axel Winter von „Wildguide“. Rentiere in Schieflage.

Dass sie überhaupt das Gleichgewicht halten können, beeindruckt mich die ganze Zeit. Im Verhältnis zur Größe der Tiere wirkt das weit verzweigte Geweih unglaublich mächtig. Unbeeindruckt zeigen sich die Tiere indes von unserer Anwesenheit inmitten ihrer Herde. Das schlägt schlagartig um, als wir mit den Flechten aus dem Futterkasten wedeln. Mit ihren samtweichen Mäulern lechzen sie den Leckereien entgegen, die wir ihnen hinhalten. Und sehen erst einmal keine Notwenigkeit, uns aus der Reichweite des Futterkastens entwischen zu lassen. Dagegen zeigen sie wenig Interesse an unserem Abendbrot auf der Terrasse. Wir sind nach wie vor neugieriger als sie. Und wissen nicht, was wir zuerst machen sollen. Uns ein Häppchen Flammlachs oder ein Wallnussbaguette in den Mund schieben oder doch nochmal den Hals verrenken, um alle Rentieraktivitäten vor und hinter dem Zelt mitzubekommen. Dann plötzlich Hufgeklapper auf hölzernem Untergrund. Zu sehen ist nichts. Dann quetscht sich ein Rentier-Teenager zwischen Zelt und Terrassengeländer zu uns durch. Wirft einen kurzen Blick in die Runde und klappert auch schon wieder von dannen. Wir sind gerade satt, haben aber noch nicht einmal unseren Wein entkorkt, da fängt es an zu schütten. Wir müssen unser Safari-Feeling in das geräumige 24 Quadratmeter große Lavvu verlegen und den Abend auf unserem fellflankierten Bett unter Sternen-projiziertem Zeltdach ausklingen lassen. Das wolfsähnliche Geheule des einen Steinwurf entfernten Huskyrudels lässt uns die Nacht über glauben, in Transsylvanien gelandet zu sein.

Doch keine Arthrose

Bin ich die einzige, die schon wach ist? Doch vereinzelt ist ein leises Klicken außerhalb der Zeltplane zu vernehmen. Die ersten Rentiere scheinen auf den Beinen zu sein. Geräuschlose Spaziergänger sind die Huftiere aus den nördlichen Gefilden nicht. Die Sehnen ihrer Fußgelenke erzeugen beim Gehen dieses Geräusch, das wie das Knacken trockener Äste klingt. Keine Arthrose – unsere anfängliche mitleidvolle Theorie wurde durch das Internet entkräftigt. Wissenschaftler*innen vermuten, dass das knackende Geräusch im Schneegestöber und im Nebel hilft, den Kontakt zur Gruppe nicht zu verlieren. Auch ohne Schneegestöber – wenngleich das Herbstwetter im August nicht weit davon entfernt scheint – für uns ein hilfreiches Rentier-Ortungsinstrument.

Aus Sorge, etwas von dem exklusiven Blick hinter die Kulissen des täglichen Rentierlebens zu verpassen, tapse ich aus dem warmen Zelt auf die morgendlich-kühle Terrasse. Doch scheinbar sind Rentiere ähnlich morgenmuffelig wie ich. Bis auf einen Rentierbullen, der flotten Schritts das Gehege entlang „joggt“, ist von den anderen offenbar noch keine Aktivität zu erwarten. Sie liegen – für mich und meine Kamera strategisch günstig – aufgereiht entlang der Terrassenstelzen. Das fulminanteste Tier – der dreijährige Ivar – versucht tapfer gegen seine Müdigkeit anzukämpfen. Bevor das schläfrige Haupt auf den Boden sinken kann, reißt er es in letzter Sekunde wieder hoch. Faszinierend, dass er mit seinem neun Kilogramm schweren Geweih überhaupt den Kopf oben halten kann. Wie sähe er wohl aus, wenn sein Kopfschmuck die Rentier-möglichen 22 Kilogramm erreichen würde? Dann hat der Schlaf gewonnen. Er kippt auf die rechte Kopfhälfte – ich hätte nie gedacht, dass das mit so einem imposanten Geweih reibungslos klappt – und versinkt augenzuckend unmittelbar im Land der Träume. Schöne Fotomotive, die uns dafür entschädigen, dass wir abends vor dem Regen hatten ins Zelt flüchten und auf das Lagerfeuer verzichten müssen.

 

Infokasten
Glamping steht für „glamourous camping“. Man schlägt kein gewöhnliches Zelt in der Natur auf, sondern übernachtet stattdessen in einer luxuriösen und komfortablen Variante. Das Übernachten im Glampingzelt bei den Rentieren auf der Wildnisfarm im Hochsolling gehört zum tierischen Programm von Wildguide und ist laut Veranstalter einzigartig in Deutschland. Mit bis zu zwei Kindern findet eine Familie hier Platz. Verpflegung, Getränke und Programm (Messerbaukurs, Rentierwanderung, Huskywanderung, Dogscootertour, Wagenfahrt oder Schlittenfahrt) können optional dazu gebucht werden. Dusche und WC stehen in der benachbarten Jugendherberge zur Verfügung. Im Rentiergehege gibt es ein Plumpsklo. Die Wildnisfarm liegt im Naturpark Solling-Vogler, einem der größten zusammenhängenden Wald- und Wandergebiete Niedersachsens im Weserbergland. Wanderlandschaft, Wildpark, Hochmoor, Aussichtsturm Hochsolling und Hochseilgarten gehören zu den umliegenden Attraktionen.