KI im Unterricht: Schummelmaschine oder Chance?

„Ich war gleichermaßen fasziniert wie erschrocken“, sagte Prof. Dr. Doris Weßels, führende Expertin in Deutschland für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und Bildung, im Interview mit der Tagesschau, als diese ihrem Publikum die Software ChatGPT vorstellte. Eine Innovation, die als ähnlich bahnbrechend gehandelt wird wie das Smartphone. Das KI-gestützte Sprachmodell ist in aller Munde, seitdem es am 30. November 2022 für alle kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Textgenerierende KI kann Fragen beantworten, Texte analysieren, übersetzen und selbst schreiben, sie zusammenfassen oder bewerten. Eine Revolution im Klassenzimmer? – Im Bildungssektor wird das Thema heiß diskutiert. In einem Online-Vortrag beleuchtete Prof. Weßels, Leiterin der Arbeitsgruppe „KI und Academic Writing“ des KI-ExpertLabs Hochschullehre, für das Ministerium für Schule und Bildung des Landes NRW die Chancen und Risiken.

Künstliche Intelligenzen halten zunehmend Einzug in den Alltag. Foto: Mario Polzer Künstliche Intelligenzen halten zunehmend Einzug in den Alltag. Foto: Mario Polzer Die Trainingsdaten, auf denen ChatGPT basiert, wurden zuletzt im Sommer 2021 aktualisiert. „Die Welt nach dem Sommer 2021 ist in der jetzigen Version noch unbekannt“, weist die Expertin auf eine Schwachstelle hin. Nicht nur, dass es auf Fragen nach dem Ukraine-Krieg von ChatGPT derzeit nur improvisierte Antworten geben kann. Aus den Charakteristika ergeben sich weitere Risiken.

Sprachmodelle spiegeln die sozialen Werte der Verfasser*innen ihrer Trainingsdaten wider. ChatGPT – in den USA mit Input gespeist – transportiert ein amerikanisches Weltbild. Wikipedia beispielsweise, „mit dessen rund sechs Millionen englischsprachigen Artikeln auch ChatGPT gefüttert wurde, ist noch immer ein Club von weißen, englischsprachigen Männern, die überwiegend in christlich geprägten Ländern auf der Nordhalbkugel leben“, führt Adrian Lobe aus, auf dessen Beitrag („Geschichten von morgen“ in der taz vom 26. Januar 2023) Prof. Weßels verweist. Das habe nicht nur die Reproduktion stereotyper Muster bei Weltreligionen, Geschlechtern sowie von Vorurteilen zur Folge. Die Fokussierung auf den Kanon der westlichen Kultur lasse andere Kulturen außen vor.

Lücken-, fehler- und schablonenhaft

Und neben seriösen Quellen seien auch weniger verlässliche in die Trainingsdaten eingeflossen. Beiträge können einen anstößigen, diskriminierenden, unangemessenen oder gefährlichen Inhalt haben. „Es kann gelegentlich schädliche Anweisungen oder voreingenommene Inhalte produzieren“, wie das System selbst auf der Startseite warnt. Ein weiteres Spezifikum: Noch kommt es zu falschen oder fehlerhaften Informationen oder schablonenhaften Antworten. „Es sind fiktive Texte. Man kann an vielen Stellen nicht erkennen, was stimmt und was nicht“, gibt Prof. Weßels zu bedenken.

Und mit der Faktentreue könnten es auch die Schüler nicht so genau nehmen. ChatGPT als große Schummel- und Plagiat-Maschine – so lautet die Befürchtung der Kritiker*innen. Die Schüler*innen haben längst gelernt, sich den Chatbot zunutze zu machen: Sie lassen Hausaufgaben, Referate oder Klassenarbeiten schreiben und geben sie als ihre eigenen aus. Derzeit gelte ein KI-generierter Text im rechtlichen Sinne nicht als Plagiat. Wohl aber als Täuschung über den Autor, wenn die Quelle nicht angegeben wird. Wie aber den Täuschungen auf die Spur kommen? 

„Wir können schneller anfangen zu denken“

„Lasst uns nach Dingen fragen, die eine Maschine nicht beantworten kann“ – im Institut auf dem Rosenberg, einer privaten, internationalen Internatsschule in St. Gallen (Schweiz), seien kritisches und analytisches Denken sowie Kreativität seit Langem die wichtigsten Bestandteile des Bildungsansatzes. „Wir haben unser Bewertungssystem angepasst. In jedem Fach bestehen nun 25 bis 30 Prozent einer Note aus dem Bereich ‚Präsentation und Debatte‘“, wie Anita Gademann, Head of Innovation, in einem Stern-Interview (25. Februar 2023) berichtet. Auf dem Rosenberg sehe man KI als große Chance und setze sie als Werkzeug im Unterricht ein. „Man braucht nicht Stunden, um Informationen zu suchen. Die Energie kann also in Diskussion gehen, in die Analyse, in die Ethik. In einem Schritt nach vorn, in ein kreatives Denken. KI ist hier, um uns Informationen zu verschaffen, die wir sonst mühsam suchen müssen und wir können schneller anfangen zu denken.“

Lehrkräfte nutzen KI für kreativen Prozess

Als Zeitersparnis wissen auch Lehrer*innen die KI-Anwendungen für ihre Unterrichtsvorbereitungen zu schätzen. In ihrem Vortrag führte Prof. Weßels ebenso den proaktiven Einsatz von KI-Sprachmodellen in der Schule vor Augen. Inspirieren lassen von verschiedenen Sprachmodellen kann man sich direkt bei OpenAI unter https://beta.openai.com/overview (Registrierung und Anmeldung nötig). Auf der Startseite finden sich einige Beispielaufgaben, über „Playgrounds“ landet man auf der Spielwiese, auf der man Sprachmodelle testen kann. Zum Beispiel ist es bei der Applikation „Friend Chat“ möglich, mit einer historisch relevanten Person – vermeintlich – zu chatten. Anschließend können die Schüler*innen in einem „Faktenspiel“ herausfinden, was stimmt und was nicht stimmt. „Ich ermuntere Sie, sich die Beispiele anzuschauen, die bieten schon sehr viele Möglichkeiten, wie man das in der Schule nutzen kann“, sagte Prof. Weßels. Viele weitere Beispiele posten Lehrer*innen täglich auf Twitter unter #twlz (Twitterlehrerzimmer): „Im Geschichtsunterricht als guter Einstieg beim Verfassen kreativer und spannender Texte als Alternative zu den oft sehr langweiligen Verfassertexten im Schulbuch“, zum Erstellen von Rollenspielen oder Arbeitsblättern, Generieren von Profilen, als Ideenpool für Vertretungsstunden, um nur einige zu nennen.

„Wir sind inzwischen in einem kreativen Prozess gelandet, in dem man viele Beispiele dafür findet, was man mit einer solchen Software im Unterricht alles machen kann“, so Prof. Weßels, die das selbst exemplarisch durchgespielt: „Erstelle mir eine Klausuraufgabe im Fach Erdkunde zum Thema Braunkohle und weltweites Vorkommen auf dem Niveau der 8. Klasse an deutschen Schulen“ oder „Wie kann eine Unterrichtsreihe zu tropischen Wirbelstürmen in Klasse 11 aussehen – mit Phasierung, Arbeitsformen und Umfang?“. Auch eine Vorformulierung für die Bewertung einer Klausuraufgabe mit einer entsprechenden Begründung lässt sich bei ChatGPT generieren.

Diskurs im Bildungssektor starten

„Wenn etwas schon in Ansätzen funktioniert, dann dürfen wir erwarten, dass es in relativ kurzer Zeit sehr viel besser funktioniert, weil diese Entwicklung so extrem schnelllebig ist“, verweist Weßels auf viele zu erwartende zeitnahe Updates. Das bringt aber auch die Herausforderung für die Lehrkräfte mit sich, mit der Schnelllebigkeit der Technologie und dem Know-how ihrer Schüler*innen mithalten zu können. Die Hausaufgabe für den Bildungssektor, um sich schneller auf die veränderten Rahmenbedingungen einzustellen: „Wir müssen einen Diskurs starten“, fordert Prof. Weßels, über die Fragestellungen: Wie setzen wir es ein? Wo setzen wir es ein? Welche neuen Rahmenbedingungen brauchen wir?

Eine Anlaufstelle

Schreiben lehren und lernen mit KI – dieser zukunftsweisenden Fragestellung widmet sich auch Prof. Dr. Doris Weßels selbst als Leiterin des virtuellen Kompetenzzentrums www.ki-schreiben-lehren-lernen.de. Ziel sind unter anderem die Schaffung einer zentralen Anlaufstelle für Aufklärungsarbeit und Beratungsdienstleistungen für Lehrende an deutschsprachigen Schulen und Hochschulen sowie Qualifizierungs- und Schulungsangebote.

Was ist ChatGPT?
Die Software, hinter der die Firma OpenAI steht, ist ein statistisches Sprachmodell. Es hat gelernt, wie ein „Autocomplete“ per Knopfdruck Texte zu vervollständigen. Die KI errechnet auf Basis eines „hochgradig abgesicherten“ statistischen Modells eine Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des nächsten Wortes. „Es ist ein munteres Würfeln von Wortsilben aus einer vorbereiteten Lostrommel von Wahrscheinlichen“, wie Prof. Weßels das Zufallsprinzip erklärt. „Jedes Mal, wenn wir einen Aufruf starten, ist das Ergebnis ein anderes. Die Ergebnisse sind Unikate, sind aber auch Zufallsergebnisse, die nicht reproduziert werden können“, macht die Expertin auf wesentliche Eigenschaften aufmerksam. Seinen Input erhielt das System aus Terabytes von Trainingsdaten – gespeist aus Wikipedia-Einträgen, Büchern, literarischen Textsammlungen etc. „Der Input bestimmt maßgeblich das Ergebnis, das herauskommt“, sagt die Referentin.