Forschungsprojekt weckt bundesweit Interesse

VR- und AR-Lernbrillen am Kolping-Berufskolleg Gütersloh

Ein Projekt, das bundesweit Wellen geschlagen hat und Klaus Gloth, den stellvertretenden Schulleiter am Kolping-Berufskolleg Gütersloh zum gefragten Gesprächspartner für Podcasts werden ließ: das Berufliche Immersive Training für Inklusion (Be-IT-Ink). Das Novum an dem Vorhaben: Erstmals wurde die Zielgruppe der jüngeren Menschen mit besonderem Förderbedarf in einem Forschungsprojekt in den Fokus gerückt. Wie können Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) Auszubildende mit besonderem Förderbedarf dabei unterstützen, bestimmte Defizite abzubauen und ihnen damit den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern?

Vor die Augen der Lernenden projizieren die VR- und AR-Brillen kleine „Filmsequenzen“.

Über eine Dauer von zwei Jahren gingen Klaus Gloth und seine Kolleg*innen dieser Fragestellung auf den Grund und konzipierten dafür digitale Anwendungen auf der Basis von AR und VR für zwei Unterrichtsreihen. Unterstützung bekamen sie dabei von ihren Verbundpartnern: vom Zeitbildverlag (Berlin) – gleichzeitig Ideengeber des Projekts, dem Kolping-Berufsbildungswerk Brakel, der Firma Viscopic (München) und der Firma Wieneke Metallbau (Bad Driburg). „Die Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf haben ein anderes Lernverhalten und andere Lernkanäle und diese Lernkanäle kann man mit diesen modernen Technologien gut ansprechen“, erklärt der Berufskolleg-Projektleiter den Hintergrund. Räumliches Vorstellungsvermögen und abstrakte Themen wie Arbeitssicherheit – damit tut sich die Schülerklientel mit klassischen Unterrichtsmethoden schwer. Und genau diese beiden Lernfelder wählte das Projektteam aus, um sie in insgesamt elf Lerneinheiten im Technologie- und im Werkstattunterricht lebendiger werden zu lassen.

Vor die Augen der Schüler*innen projizieren die VR- und AR-Brillen kleine „Filmsequenzen“, in denen Aufgaben integriert sind: Dinge, die es händisch zu bewerkstelligen gilt, und Fragen, denen per Laserstrahl die richtigen Antwortbuttons zugeordnet werden. So kann beispielsweise eine technische Zeichnung lebendig werden mit ihren Körpern wie Kegel, Pyramide, Quader, Zylinder, Hohlzylinder oder Kugel – alles zum Anpacken mit virtuellen Händen. „Ordne den Grundkörper der richtigen Fertigungszeichnung zu“ oder „Positioniere die Körper so zueinander, dass sie eine Lokomotive abbilden“ lauten etwa die Arbeitsanweisungen. Wird eine Aufgabe richtig gelöst, gelangt man ins nächste Level. „Die Schüler*innen erhalten eine sofortige Rückmeldung und das kommt sehr gut an, weil es sofort den Impuls auslöst, es noch einmal zu versuchen“, beschreibt Gloth den Vorteil der intensiven Vertiefung. Diese Lernwiederholungen lässt der klassische Unterricht vermissen. Zudem können sich die Jugendlichen in eigenständigen Lernphasen in ihrem eigenen Tempo und in einem geschützterem Raum mit den Aufgaben auseinandersetzen, was neben der stärkeren Visualisierung und dem haptischen Erleben zu den Stärken der neuen Unterrichtsmethode gehört.

Fazit zum Projekt fällt eindeutig aus

Sind AR- oder VR-Anwendungen für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf also besser geeignet als die klassischen Lernformen? Diese Frage kann Klaus Gloth mit einem eindeutigen Ja beantworten: „Die Lernergebnisse sind deutlich besser geworden.“ Untermauert wird sein Eindruck von der Evaluation der Technischen Universität München. „Während die ‚Behaltensquote‘ bei klassischem Unterricht in der Vergleichsgruppe bei 45 bis 50 Prozent lag, lag sie durch die Arbeit mit den VR-/AR-Brillen bei 90 bis 95 Prozent“, wie Gloth berichtet. Ein weiteres, interessantes Resultat: Es bestand kein Zusammenhang zwischen Lernerfolg und Motivation. Gute Ergebnisse haben auch diejenigen erzielt, die nicht motiviert waren. „Es führt also auch unabhängig vom Spaßfaktor zum Lernerfolg“, schildert der Gütersloher Projektleiter die für ihn wichtigste Erkenntnis. Die Technische Uni  beschreibt die Erfolge in ihrem Schlussbericht im Detail – eine „Monsterauswertung“, wie Klaus Gloth ihn augenzwinkernd nennt. Das einhellige Fazit des Projekts lautet daher: Es hat sich gelohnt.

Das sah auch die Jury des bundesweiten Innovationswettbewerbs „Ausgezeichnete Orte im Land der Ideen“ so ( Hier kommen Sie zum Projektvideo) und prämierte das Forschungsprojekt 2019, das am Kolping-Berufskolleg Gütersloh mit Leben gefüllt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfond gefördert wurde.

Nicht in erster Linie die digitale Innovation bescherte dem Projekt eine mediale Aufmerksamkeit. „Bisher hatte die Zielgruppe der jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf kaum Berücksichtigung gefunden bei der Entwicklung von Unterrichtsmaterial“, erklärt Klaus Gloth den Stellenwert des Projekts, das dieser Lücke etwas entgegensetzen möchte. Zudem habe man dank der Uni relativ schnell belastbare Ergebnisse vorweisen können. Und so wurde der Berufskolleg-Projektleiter für mehrere Podcasts interviewt wie unter anderem „Smart ausbilden“ des Netzwerk Q 4.0 Südwest, "foraus.gehört – Neues für die Ausbildungspraxis" für das Ausbilderportal des BIBB.

Weiterentwicklungen am Berufskolleg Gütersloh geplant

Inzwischen stehen die digitalen Lerneinheiten auch für interessierte Lehrkräfte und Ausbilder*innen zur Verfügung. Einen Eindruck davon erhält man auf dem Youtube-Kanal von Zeitbild. Ein Handbuch hilft die Sequenzen im Unterricht einzubinden, ein Autorentool ermöglicht es, dass User eigenständige Inhalte in die VR- bzw. AR-Anwendungen einpflegen können ( Die Materialien finden Sie hier). Am Berufskolleg in Gütersloh werden die Lerneinheiten zum Standard, derweil man zudem bereits neue Zukunftsvisionen hat. „Wir sind bestrebt, so schnell wie möglich mit neuen Anwendungen zu starten. Für uns ist das Vorhaben, möglichst viel Software für VR-Technologien selber zu entwickeln“, stellt Klaus Gloth in Aussicht. So möchte man eine Software entwickeln, mit der im Werkstattbereich der Umgang mit Maschinen geübt werden kann, „was unter normalen Umständen nicht möglich wäre“. Aber auch außerhalb des mathematischen und technischen Bereichs kann sich die Schule den Einsatz mit VR-/AR-Brillen vorstellen. Verknüpft mit KI könnten beispielsweise Bewerbungsgespräche mit einem „realen“ Gegenüber geübt werden. „Wir sind noch in der Findungsphase, was alles möglich ist“, sagt der Verantwortliche des Projekts in Gütersloh.

Wie sieht die Perspektive aus, diese Technologien an anderen Schulen einzusetzen? „Die Inhalte waren nur das Pferd, auf dem man reitet. Wir haben losgelöst von den Inhalten eruiert, dass die VR-Technologie Vorteile für den Unterricht bringt“, unterstreicht Klaus Gloth den Forschungsansatz und sieht daher für viele Behinderungsarten grundlegend gute Möglichkeiten, diese Technologien überall dort einzusetzen, „wo es um Intensivierung geht, um Selbstlernen, um langfristiges Einüben“.