Demokratiebildung ist niederschwellig, interaktiv, emotional
„Wenn sie nicht gespürt wird, ist sie nicht nachhaltig“
„Druckbetankung in Sachen Demokratie – das ist keine Vorgehensweise, um Schüler*innen Demokratie nahezubringen“, sagt Stefan von Zons, der für das Kolping-Bildungswerk Paderborn die Indoor-Ausstellung „Toleranzräume“ betreut und moderiert hat. Er und seine Frau Sonja von Zons arbeiten als politische Bildner*innen und unter anderem als Demokratie-Trainer*innen. Im Interview mit dem Kolping Schulwerk sprechen sie darüber, wie eine gelungene Demokratiebildung in Schulen aussehen kann: Was sind bewährte Methoden und Formate? Wie können Lehrkräfte zu Demokratiebotschafter*innen werden? Wie kann man Haltung zeigen? Was muss sich für eine erfolgreiche Demokratieerziehung ändern?
Stefan von Zons ist unter anderem Betzavta-Trainer, Trainer „Aufstehen gegen Rassismus“, „Schwarz-Weiß-Bunt-Trainer“ und „Deeskalationstrainer Gewalt und Rassismus“. Momentan begleitet er auch die bundesweite Ausstellung „Toleranzräume“ mit Workshops und Führungen. Foto: Jana Sudhoff
Schulwerk: Wie sieht gelungene Demokratiebildung in der Schule aus?
Stefan von Zons: Niederschwellig, immer mittels interaktiver Übungen und nie im Vortragsformat. Demokratie ist nichts Abstraktes, sondern muss gelebt, ausgehandelt und gespürt werden. Auch wenn Gremien wie die Schülervertretung ein schönes Format sind, reicht das für Demokratiebildung nicht aus. Demokratie ist vielfältig. Unter anderem ist Demokratie auch ein sozialer Prozess. Darauf legen wir bei unserer Arbeit den Fokus. Wir orientieren uns unter anderem am Demokratieprogramm „Betzavta“. Es zielt darauf ab, durch interaktive Gruppenübungen gegenseitige Anerkennung zu erfahren, Perspektiven von anderen zu verstehen und die eigene Haltung und eigenen Werte zu reflektieren. Demokratiebildung lebt von kleinen, realistischen Schritten.
Sie ist nicht nur erfolgreich, wenn man alle 28 Schüler*innen einer Klasse erreicht. Aber wenn fünf Personen mit einem Fragezeichen nach Hause gehen, dann sortieren sie sich vielleicht neu. Es ist wie bei einem Mobile. Wenn sich in einer Gruppe an einer Stelle etwas verändert, reagiert das Umfeld darauf und dann bewegt sich etwas in der Gruppe.
Impulse setzen wir aber nicht, indem wir viel Theoretisches an die Klassen herantragen oder ein Programm abspulen. Wenn es nicht auch gespürt wird, bleibt es nicht nachhaltig. Wichtig ist, dass man Emotionen und Gefühlen einen Raum gibt und diese in die Übungen miteinbezieht.
„Toleranz-Bilder“ sind ein Joker
Schulwerk: Welche Formate haben sich bewährt?
Sonja von Zons: Mein Herzensthema ist, Jugendlichen Erinnerungskultur nahezubringen – besonders auch Zugewanderten. Es ist unheimlich wichtig, dass wir mit ihnen darüber reden, was passiert ist. Denn unsere Demokratie und unsere Werte fußen auf unseren Erfahrungen mit unserer Vergangenheit und auf dem, was schief gegangen ist. Die Jugendlichen sollen verstehen lernen, warum unsere Demokratie so ist, wie sie ist, und dass wir alle dafür verantwortlich sind, dass diese Demokratie Bestand hat.
Stefan von Zons: Der Joker in einem großen Methoden-Potpourri sind die „Toleranz-Bilder“. Die Box enthält 63 Fotos, die etwas in den Menschen auslösen. Zu sehen sind etwa ein Panzer, ein homosexuelles Pärchen, eine Frau mit Kopftuch. Die Bilder sind niedrigschwellig und können sprachunabhängig von jedem*jeder interpretiert werden und jede*r kann in einem solchen Format seine*ihre Meinung äußern. Unsere Erfahrung hat gezeigt: Egal, wo du kognitiv ansetzt, es herrscht in allen Gruppen ein hohes Mitteilungsbedürfnis. In Internationalen Förderklassen bedeutet gelebte Demokratie manchmal schon, den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung zu äußern und anderen gegenüber konträr stehen zu dürfen. Das ist in ihren Herkunftsländern oft nicht gegeben. Auf diese Weise können Haltungen reflektiert und bestenfalls verändert werden.
Sonja von Zons: Bei manchen rufen die Bilder absolute Abwehr hervor. Sie können das Abgebildete nicht ertragen. Diesen Emotionen sollte man einen Raum geben: Was macht das mit dir?
Schulwerk: Wie wandelt man Emotionen in eine Haltungsänderung um?
Stefan von Zons: Dafür kommen unter anderem die Zahlenkarten „6“ und „9“ zum Einsatz. Eine Schülergruppe sieht aus ihrer Perspektive eine „9“ und die andere eine „6“. Es gibt kein richtig oder falsch. Die Botschaft ist nicht, die andere Seite von seiner Perspektive zu überzeugen. Wenn man aber einen Perspektivwechsel versucht, versteht man, warum die andere Seite eine andere Zahl sieht. Damit ist die Diskussion auf einem anderen Level. Dann lassen sich die Teilnehmenden oft darauf ein, beispielsweise gleichgeschlechtliche Liebe auszuhalten, auch wenn sie sie niemals akzeptieren werden. Denn tolerieren bedeutet wörtlich „ertragen, aushalten oder erdulden“. Wir haben natürlich das Privileg, in der Regel mit zwei Trainer*innen einen ganzen Tag lang in einer Schulklasse Impulse geben zu können.
„Schüler*innen lechzen nach Haltungsmenschen“
Schulwerk: Wie können Lehrkräfte zu Demokratiebotschafter*innen werden?
Stefan von Zons: Lehrer*innen wünschen sich in Fortbildungen oft einen Koffer, in dem 30 Methoden sind – mit einer Handreichung: „Wenn „a“ passiert, nehme ich Methode 3 und wenn „b“ passiert, mache ich Methode 10. So funktioniert das leider nicht. Ich habe in meinen Workshops immer alles mit, um auf die Gruppe eingehen zu können. Politische Bildung wirkt nicht, wenn man etwas aufoktroyiert. Nur wenn man die richtige Übung für die richtige Klasse findet, kommen die Schüler*innen aus sich heraus.
Sonja von Zons ist unter anderem Betzavta-Trainerin, „Deeskalationstrainerin Gewalt und Rassismus“, Systemischer Coach für „Neue Autorität“, Rechtsextremismus- und Rassismuspräventionstrainerin sowie „Tomoni schools - mental health“-Botschafterin.
Es geht aber vor allem um die Haltung der Lehrpersonen. Schüler*innen lechzen nach jemandem, der*die auch einmal seine*ihre eigene Meinung kundtut. Die Schüler*innen brauchen einen Haltungsmenschen, an dem sie sich reiben können. Jedoch scheuen sich viele Lehrkräfte davor, weil sie Angst haben.
Das Neutralitätsgebot bedeutet aber nicht, dass sich Lehrkräfte komplett neutral verhalten sollen, sondern parteipolitisch neutral. Sie haben im Gegenzug einen Eid geschworen, dass sie sich aktiv für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und Werte einsetzen. Und in diesem Rahmen können und sollten sie Aussagen tätigen. Das Grundgesetz ist dann in diesem Kontext keine Verhandlungssache.
Sonja von Zons: Lehrkräfte können ihre politische Meinung äußern, indem sie begründen, inwiefern Äußerungen, Verhaltensweisen oder ein Wahlprogramm demokratiefeindlich oder verfassungsfeindlich sind.
Schulwerk: Was macht einen Haltungsmenschen aus?
Sonja von Zons: Wir müssen alle trainieren, populistische Gespräche auszuhalten. Wenn wir sie abblocken, verbauen wir uns auch eine Chance. Wenn ich jemanden höre, der rassistische Kommentare abgibt, gehe ich nicht sprachlos vorbei. Und wenn es nur ein Satz ist, mit dem ich ihm*ihr spiegle, was ich von der Äußerung halte – um zu zeigen: Es gibt Menschen, die anders denken. Wenn das nicht kommentiert wird, gilt das als Zustimmung und man fühlt sich in seiner Blase bestätigt und kann sich in Ruhe radikalisieren. Wenn aber eine*r den Anfang macht, reagieren oft auch andere und zeigen Haltung.
Stefan von Zons: Man sollte immer reagieren und niemals einen diskriminierenden oder rassistischen Spruch so stehen lassen. Man muss nicht immer in die Diskussion gehen, weil die Situation das eben nicht immer hergibt. Es reicht auch manchmal ein niederschwelliger Impuls: „Das sehe ich nicht so“ und raus aus der Situation. Das ist auch ein Geheimnis beim Argumentationstraining, bei dem es eine Bandbreite an Reaktionen gibt.
Schulwerk: Was müsste sich für eine erfolgreiche Demokratieerziehung ändern?
Stefan von Zons: Wir müssen in dieser besonderen Situation Zeit- und Finanzressourcen in den Schulen investieren, um die momentane Entwicklung zu stoppen. Der Kipppunkt ist bald erreicht. Es ist an der Zeit, mehr Raum für Demokratiebildung und die Stärkung der Lehrkräfte zu schaffen. Man könnte den jährlichen Fortbildungstag auf zwei oder drei Tage im Schuljahr ausdehnen und für die Fortbildung des Kollegiums Expertise von außen holen. Die Aufgabe ist es, die Lehrkräfte zu empowern und dem Austausch einen breiten Raum zu geben. Wenn man Reflexionen bei Multiplikator*innen anstößt, dann agieren sie in gewissen Situationen auch anders.
In einer Schule in Hamm, die sich gerade im Aufbau befindet, hat man sich Demokratiebildung auf die Fahnen geschrieben und gibt dem beispielsweise eine ganze Woche lang Raum, um mit den Schüler*innen den Demokratieführerschein – ein Projekt der VHS – zu machen.
Sonja von Zons: Ich würde mir wünschen, dass in Schulen wöchentlich eine Stunde für Demokratiebildung reserviert wird. Das bleibt im normalen Unterricht naturbedingt meist auf der Strecke. Und es ist wichtig, den Lehrkräften das passende Handwerkszeug mitzugeben. Es steht und fällt letztendlich mit der Persönlichkeit des Lehrenden.