Glückslehrerin macht Achtklässler*innen seetauglich für Piratenabenteuer

Was kann ich? Schreibe 30 Fähigkeiten auf: Ich kann zuhören, andere unterhalten, andere zum Lachen bringen, auf meine Geschwister aufpassen, mich selbst mit Essen versorgen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, Freundschaften pflegen, lesen und schreiben, Kontakte knüpfen, Social Media, schwimmen, trösten, selbstständig lernen. Die Aufzählung der ersten Stärken läuft wie am Schnürchen. „Bei 14 kommt man schon ins Stocken“, verrät Catharina Kautz, kommissarische Schulleiterin der Dortmunder Wilhelm-Röntgen-Realschule – eine von rund 100 gelisteten „Glücksschulen“ in Deutschland. Am Fritz-Schubert-Institut absolviert die Pädagogin eine Fortbildung als Glückslehrerin und macht die 8c seitdem im „Schulfach Glück“ – angedockt an den Philosophieunterricht – seefest für die große Überfahrt auf dem Piratenschiff.

Um Glück, Werte und Wohlbefinden geht es unter anderem im „Schulfach Glück“, das Catharina Kautz an der Dortmunder Wilhelm-Röntgen-Realschule eingeführt hat. Foto: Jana Sudhoff Die Schiffsmetapher zieht sich dienstags wie in roter Faden durch die ersten beiden Unterrichtsstunden. Ein junger Pirat möchte auf Reisen gehen, dafür braucht er ein eigenes Schiff. 30 Planken (Fähigkeiten), ein stabiler Kiel (Kernstärken), ein Mast (Strebensstärke) und ein Querbaum (Spielstärke) bilden den Schiffskorpus. Damit die Planken nicht von einem Sturm auseinandergerissen werden, werden sie fest verleimt – mit der Kenntnis der eigenen Schwächen. „Wenn ich weiß, wo ich getroffen werden kann, kann ich vorbeugen“, verdeutlicht Catharina Kautz. Ihr Arbeitsauftrag an diesem Dienstagmorgen an die 8c: Jeder Pirat respektive Schüler*in darf die Crew für das frisch zusammengezimmerte Schiff zusammenstellen – rekrutiert aus dem „Tempel der Tugenden“. Welche Eigenschaften werden der erste Offizier, die beiden Unteroffiziere und die Mannschaft haben? Die Hohepriesterin am Eingang des Tempels hilft mit drei Fragen bei der intuitiven Auswahl: Welche Tugend lässt dich die Welt retten? Wenn du auf eine der sechs Tugenden (Mut, Gerechtigkeit, Wissen/Weisheit, Mäßigung, Menschlichkeit und Transzendenz) verzichten müsstest, welche wäre das? Welche der übrigen vier Tugenden unterstützt die erste am besten? Den Tugenden sind jeweils eine Reihe von Eigenschaften zugeschrieben. Aus dem entsprechenden Pool dürfen die Achtklässler*innen noch einmal auswählen, was ihre Crewmitglieder mitbringen sollen. Eigenschaften wie Vergebungsbereitschaft, Fairness, Sinn für das Schöne, Authentizität stehen zur Wahl. Die zentrale, übergeordnete Frage über allem: Welche Werte sind mir wichtig? Wovon will ich im Leben nicht abrücken?

Genug Stoff für die ganze Schullaufbahn

Und welche Grundverhaltensweisen und Glaubenssätze, die wir schon in unserer Kindheit mit auf den Weg bekommen haben, schränken mich ein, um ins große weite Meer zu stechen? Bin ich offen für die Reise oder halten mich die Hafenmauern zurück? Wo soll es hingehen? Welches sind meine Visionen, wenn ich völlig frei wäre? Wie will ich mich verändern, um das zu schaffen? Was will ich dafür tun? Das Spektrum der Fragestellungen ist weitreichend, hintergründig, wegweisend. „Das könnte man die gesamte Schullaufbahn durchgängig unterrichten“, sagt die Glückslehrerin. Und dennoch will „Glücksunterricht“ gelernt sein. Auch von den Schüler*innen.

Das große Schweigen herrschte in den ersten Unterrichtsstunden im „Schulfach Glück“. „Die Schüler*innen waren irritiert und wussten nicht, was man von ihnen will. Das ist so anders als normaler Klassenunterricht“, berichtet Catharina Kautz. „Man beginnt bei sich selbst und setzt sich intensiv mit seinen Stärken auseinander.“ 30 eigene Fähigkeiten, der Wald der Bäume, die „warme Dusche“, Stärken-Schatzkiste für Kinder und Jugendliche, was war an diesem Tag gut und welche Stärken musste ich dafür einsetzen? – das Repertoire an Methoden und Materialien ist groß. „Nur wenn ich mich selbst sehr gut kenne, kann ich gucken, was ich tun muss, um glücklich zu werden. Das ist anstrengend und harte Arbeit für die Schüler*innen, weil es nur um sie selbst geht. Man findet viel über sich selbst heraus“, berichtet die Glückslehrerin. Später dann wurde sie von den tiefgreifenden Antworten ihrer Schüler*innen überrascht, als es um die Offenlegung der eigenen Schwächen ging: Ich fühle mich hässlich. Ich fühle mich ungeliebt. Wir haben immer Streit in der Familie. „Das waren ehrliche Eingeständnisse“, freut sich Kautz. „Das lebt davon, wie blank man als Lehrkraft selber zieht“, sagt die Realschullehrerin. „Wenn man selbst Privates von sich offenbart und das Signal gibt, es ist okay sich zu öffnen, trägt das gravierend dazu bei, was die Schüler*innen preisgeben.“ Und davon profitiere auch die Klassengemeinschaft, weil man sich viel anvertraue. „Das ist emotionaler, als man glaubt“, berichtet Kautz von der Auseinandersetzung ihrer Schüler*innen mit der eigenen Vergangenheit, der Familie und auch der kulturellen Identität.

„Glücksunterricht“ ist Beziehungsarbeit

„Die Ausbildung als Glückslehrerin lohnt sich“, ist die Dortmunder Realschullehrerin begeistert. Der „Glücksunterricht“ sei ein Türöffner zu einem anderen Schüler-Lehrer-Verhältnis: Er hilft eine Beziehung zu den Schüler*innen aufzubauen. „Die Lehrkraft verlässt ihre ursprüngliche Rolle und gibt auch Privates preis“, so Kautz. Das helfe einen Zugang auch zu einem schwierigerem Schülerklientel zu finden. „Zu wem man eine Beziehung hat, den verletzt man nicht so schnell. Andernfalls kann ich mich leichter benehmen wie die Axt im Walde“, sagt die kommissarische Schulleiterin, die in ihrer Glückslehrerausbildung selbst alle Prozesse durchläuft, „um wirklich zu durchdringen, was man mit den Schüler*innen erreichen möchte“. Wie schwer es ist, 30 seiner Fähigkeiten aufzuschreiben, das hat dabei auch Catharina Kautz gelernt.

 

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